Lange angestrebte Messung des exotischen Betazerfalls in Thallium hilft bei Bestimmung der Zeitskala der Sonnenentstehung

13.11.2024

Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine internationale Kollaboration von Wissenschaftler*innen ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihnen gelang die Messung des gebundenen Beta-Zerfalls von vollständig ionisiertem Thallium (205Tl81+) am Experimentierspeicherring (ESR) von GSI/FAIR. Die Messung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Produktion von radioaktivem Blei (205Pb) in Sternen auf dem asymptotischen Riesenast (sogenannte AGB-Sterne) und kann zur Bestimmung der Sonnenentstehungszeit genutzt werden. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Aktuelle Berechnungen gehen davon aus, dass die Entstehung unserer Sonne aus der Vorläufer-Molekülwolke einige zehn Millionen Jahre gedauert hat. Die Forschenden leiten diese Zahl aus langlebigen Radionukliden ab, die kurz vor der Entstehung der Sonne durch den sogenannten astrophysikalischen s-Prozess erzeugt wurden. Der s-Prozess fand in der Nachbarschaft der Sonne in Sternen auf dem asymptotischen Riesenast (engl. asymptotic giant branch oder kurz AGB) statt – Sterne mit mittlerer Masse, die sich am Ende ihres Brennzyklus befinden. Die Radionuklide, die seit der Geburt der Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren längst zerfallen sind, haben ihre Spuren in Form kleiner Überschussmengen ihrer Zerfallsprodukte in Meteoriten hinterlassen, wo sie nun nachgewiesen werden können. Der ideale Kandidat ist ein Radionuklid, das ausschließlich durch den s-Prozess erzeugt wird und keine Verunreinigungen durch andere Nukleosyntheseprozesse aufweist. Ausschließlich der „reine-s-Kern” 205Pb erfüllt diese Eigenschaften.

Auf der Erde zerfällt das Atom 205Pb zu 205Tl, indem sich eines seiner Protonen und ein atomares Elektron in ein Neutron und ein Elektron-Neutrino umwandeln. Der Energieunterschied zwischen 205Pb und seiner Tochter 205Tl ist so gering, dass die größeren Bindungsenergien der Elektronen in 205Pb (mit der Ladung Z=82 im Vergleich zu nur 81 Elektronen in 205Tl) den Ausschlag geben. Mit anderen Worten, wenn alle Elektronen entfernt werden, kehrt sich die Rolle von Tochter und Mutter beim Zerfall um und 205Tl erfährt einen Beta-Minus-Zerfall zu 205Pb. Dies geschieht in AGB-Sternen, wo die Temperaturen von einigen 100 Millionen Kelvin ausreichen, um die Atome vollständig zu ionisieren. Die Menge an 205Pb, die in AGB-Sternen erzeugt wird, hängt entscheidend von der Geschwindigkeit ab, mit der 205Tl zu 205Pb zerfällt. Dieser Zerfall kann jedoch unter normalen Laborbedingungen nicht gemessen werden, da 205Tl in diesem Zustand stabil ist.

Der Zerfall von 205Tl ist energetisch nur beobachtbar, wenn das erzeugte Elektron in einem gebundenen Atomorbital von 205Pb eingefangen wird. Dies ist ein äußerst seltener Zerfallsmodus, der als gebundener Betazerfall bekannt ist. Außerdem führt der Kernzerfall zu einem angeregten Zustand in 205Pb, der nur um winzige 2,3 Kiloelektronenvolt über dem Grundzustand liegt, aber gegenüber dem Zerfall in den Grundzustand stark bevorzugt wird. Das 205Tl-205Pb-Paar kann man sich als stellares Wippenmodell vorstellen, da beide Zerfallsrichtungen möglich sind und der Gewinner von den stellaren Umgebungsbedingungen wie Temperatur und (Elektronen-)Dichte abhängt – und von der Stärke des Kernübergangs, die die große Unbekannte in diesem stellaren Wettbewerb darstellte.

Diese Unbekannte wurde nun in einem ausgeklügelten Experiment von einem internationalen Team von Wissenschaftler*innen aus 37 Institutionen und zwölf Ländern entschlüsselt. Der gebundene Beta-Zerfall ist nur möglich, wenn der zerfallende Kern von allen Elektronen befreit und mehrere Stunden lang unter diesen außergewöhnlichen Bedingungen gehalten wird. Dies ist weltweit nur am Schwerionen-Experimentierspeicherring (ESR) von GSI/FAIR in Kombination mit dem Fragmentseparator (FRS) möglich. „Die Messung von 205Tl81+ wurde in den 1980er Jahren vorgeschlagen, aber es hat Jahrzehnte der Beschleunigerentwicklung und die harte Arbeit vieler Kolleg*innen benötigt, um sie zum Erfolg zu führen“, sagt Professor Yury Litvinov von GSI/FAIR, Sprecher des Experiments. „Eine Vielzahl bahnbrechender Technologien musste entwickelt werden, um die nötigen Bedingungen für ein erfolgreiches Experiment zu erreichen – wie die Produktion von nacktem 205Tl in einer Kernreaktion, dessen Separation mithilfe des FRS sowie die Anhäufung, Kühlung, Speicherung und Messung im ESR.“

“Durch die Kenntnis der Übergangsstärke können wir nun die Raten, mit denen das Wippenpaar 205Tl-205Pb unter den Bedingungen in AGB-Sternen arbeitet, genau bestimmen“, sagt Dr. Riccardo Mancino, der die Berechnungen im Rahmen seiner Tätigkeit als Postdoc an der Technischen Universität Darmstadt und bei GSI/FAIR durchgeführt hat.

Die 205Pb-Produktionsausbeute in AGB-Sternen wurde von Forschenden des Konkoly-Observatoriums in Budapest (Ungarn), des INAF Osservatorio d'Abruzzo (Italien) und der Universität Hull (Großbritannien) abgeleitet, indem sie die neuen 205Tl-205Pb-Zerfallsraten in ihre modernen astrophysikalischen AGB-Modelle implementierten. „Die neuen Zerfallsraten erlauben uns eine zuverlässige Vorhersage, wie viel 205Pb in AGB-Sternen produziert wird und seinen Weg in die Gaswolke findet, die unsere Sonne geformt hat“, erläutert Dr. Maria Lugaro, Wissenschaftlerin am Konkoly-Observatorium. „Durch einen Vergleich mit der Menge von 205Pb in Meteoriten ergibt das neue Ergebnis ein Zeitintervall von zehn bis zwanzig Millionen Jahren für die Entstehung der Sonne aus der vorgelagerten Molekülwolke. Dies stimmt überein mit Daten von anderen radioaktiven Spezies, die durch den langsamen Neutroneneinfangprozess entstehen.“

“Unser Ergebnis unterstreicht, wie bahnbrechende experimentelle Einrichtungen, die Zusammenarbeit vieler Forschergruppen und viel harte Arbeit uns helfen können, die Prozesse im Inneren von Sternen zu verstehen. Mit unserem neuen experimentellen Ergebnis können wir ermitteln, wie lange es dauerte, bis unsere Sonne vor 4,6 Milliarden Jahren entstand”, sagt Guy Leckenby, Doktorand am TRIUMF und Erstautor der Veröffentlichung.

Die gemessene Halbwertszeit des gebundenen Beta-Zerfalls ist für die Analyse der Akkumulation von 205Pb im interstellaren Medium von wesentlicher Bedeutung. Aber auch andere Kernreaktionen spielen eine Rolle, darunter die Neutroneneinfangrate von 205Pb, für die ein Experiment mit der Ersatzreaktionsmethode im ESR geplant ist. Diese Ergebnisse verdeutlichen die einzigartigen Möglichkeiten, die die Schwerionenspeicherringe bei GSI/FAIR bieten und die es erlauben, das Universum ins Labor zu holen.

Die Arbeit ist den verstorbenen Kollegen Fritz Bosch, Roberto Gallino, Hans Geissel, Paul Kienle, Fritz Nolden und Gerald J. Wasserburg gewidmet, die diese Forschung über viele Jahre unterstützt haben. (CP)

Weitere Informationen

Wissenschaftliche Veröffentlichung im Fachjournal Nature



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